Die Freuden des jungen Werther
- florianmatzke
- 13. Juli 2022
- 2 Min. Lesezeit
Was es heißt >>in der Natur zu verweilen<< und >>von der Natur zu schwärmen<<, können wir vom Werther lernen. Im ersten Brief beschreibt Werther die Naturlandschaft, in der er sich aufhält, als „paradiesische Gegend“.
„Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blüten, und man möchte zum Maienkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschweben und alle seine Nahrung darin finden zu können. Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur.“
Werther genießt die Düfte der blühenden Natur, der „süße Frühlingsmorgen“ versetzt ihn in eine Stimmung der Heiterkeit und Freude. Abseits der Stadt genießt er die Schönheit der Natur. Dabei ist er „so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken“.
Eine andere Szene führ uns das ästhetische Verweilen in die Natur besonders eindrücklich vor Augen:
„Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen…“
Werther erliegt voll und ganz „der Herrlichkeit dieser Erscheinungen“. Die kontemplative Erfahrung wird hier als eine quasi-religiöse Erfahrung beschrieben.
Die Sensibilität für das Schöne des Frühlingsmorgens, das Mitgehen mit den Insekten, das Verweilen am Bache, die Stimmung der Heiterkeit, das ruhige Dasein … alle diese Momente weisen auf Empfindungen und Haltungen hin, die das kontemplative In-der-Natur-seins als naturästhetisches Verweilen kennzeichnen.
Aber natürlich kennt Werther auch die Kehrseite der Natur. So wird nicht nur die schöne, herrliche und lebendige Natur gepriesen. In bestimmten Augenblicken leidet er auch an der verzehrenden, zerstörenden Kraft der Natur:
Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabes. Kannst du sagen: Das ist! Da alles vorübergeht? Da alles mit der Wetterschnelle vorüberrollt, so selten die ganze Kraft seines Daseins ausdauert, ach, in den Strom fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird? Da ist kein Augenblick, der nicht dich verzehrte und die Deinigen um dich her, kein Augenblick, da du nicht ein Zerstörer bist, sein mußt; der harmloseste Spaziergang kostet tausend armen Würmchen das Leben, es zerrüttet ein Fußtritt die mühseligen Gebäude der Ameisen und stampft eine kleine Welt in ein schmähliches Grab. Ha! Nicht die große, seltne Not der Welt, diese Fluten, die eure Dörfer wegspülen, diese Erdbeben, die eure Städte verschlingen, rühren mich; mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt; die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte. Und so taumle ich beängstigt. Himmel und Erde und ihre webenden Kräfte um mich her: ich sehe nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer.
Wie geht die Naturästhetik, die oftmals nur das Schöne, Lebendige und Erhabene in den Blick nimmt, mit der Tatsache um, dass die Natur auch Tod und Zerstörung mit sich bringt? Und auch der Mensch Tod, Leid und Zerstörung über die Natur bringt?

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